Rezension von Ivo Gloss vom 13.03.2009

JEFREMOW-ROMAN IN DEUTSCHER ERSTVERÖFFENTLICHUNG
Wohl jedem, der sich auch nur ein wenig mit der wissenschaftlichen Phantastik der Sowjetunion beschäftigt hat, ist der Name Iwan Jefremow (1907-1972) ein Begriff. Der Beginn der Zeitschriftenveröffentlichung seines Romans "Das Mädchen aus dem All" (1957/58) fiel mit dem Beginn des Raumfahrtzeitalters zusammen, und der Roman markierte für die sowjetische Science Fiction den Beginn einer neuen Etappe, in der die bis dahin vorherrschende Nah-Phantastik um Verbesserungen in der sozialistischen Produktion und die Abwehr von Spionen und Saboteuren allmählich durch kühnere Zukunftsentwürfe oder zumindest doch kosmische Abenteuer abgelöst wurde.
Weniger bekannt ist hierzulande, dass Jefremow noch einen zweiten großen Science-Fiction-Roman geschrieben hat. "Die Stunde des Stiers" erschien 1968 zunächst in einer gekürzten Zeitschriftenfassung und 1970 dann in der umfangreicheren Buchversion. Die Handlung ist 300 Jahre nach "Das Mädchen aus dem All" angesiedelt. Prolog und Epilog zeigen wieder die lichte Zukunftswelt, aber das Augenmerk des durch "Das Mädchen aus dem All" und die Novelle "Das Herz der Schlange" (1959) als so demonstrativ optimistisch bekannt gewordenen Autors liegt diesmal auf einer Dystopie. Im Rückblick werden die Erlebnisse edler irdischer Raumfahrer auf dem Planeten Tormans geschildert. Der Planet wurde vor langer Zeit von kapitalistisch organisierten irdischen Auswanderern besiedelt, und nun finden die allseitig entwickelten Besucher aus der klassenlosen Gesellschaft eine katastrophale soziale und ökologische Situation vor. Das Sujet verheißt linientreue antikapitalistische Polemik, und Jefremow scheint dieser Erwartung durchaus gerecht zu werden.
Um so überraschender mag da das weitere Schicksal dieses Romans erscheinen. Nach der Buch-Erstveröffentlichung in einer Auflage von 200000 Exemplaren fiel er nachträglich der Zensur zum Opfer. Das manifestierte sich nicht allein darin, dass der Roman nunmehr weder zu kaufen noch in den Bibliotheken auszuleihen war, sondern fortan in Publikationen nicht einmal mehr erwähnt werden durfte. Der Status Jefremows als - neben Alexej Tolstoi und etwas kontrovers auch den Strugazkis - Vorzeigeautor der sowjetischen Science Fiction blieb jedoch bestehen, zumal der Schriftsteller und Paläontologe 1972 verstarb und somit keine neuen Probleme von seiner Seite zu erwarten waren. Außer halt dem, dass man keine vollständige Werkausgabe veranstalten konnte. (Es ergab sich die skurrile Situation, dass in den 1975/76 erschienenen und 1980 mit einem Ergänzungsband abgeschlossenen "Gesammelten Werken" nicht nur der Text des geächteten Romans fehlte, sondern jedweder Hinweis auf dessen bloße Existenz. Und das trotz einer in dieser Edition enthaltenen Bibliographie der Werke Jefremows.)
Warum nun ist "Die Stunde des Stiers" derart in Ungnade gefallen? Ich sehe folgenden Grund dafür. In der Tat polemisiert Jefremow vordergründig gegen den Kapitalismus und - in Übereinstimmung mit der damaligen offiziellen sowjetischen Linie - gegen den kommunistischen Ameisenstaat maoistischer Prägung. Doch aus dem Romankontext herausgelöst würde sich so mancher Kritikpunkt auch ausgezeichnet auf einer dissidentischen Charta ausmachen. Ist der Raubbau an der Natur tatsächlich ein allein dem maroden kapitalistischen System eigenes Problem? Der Eifer, mit dem die Herrscherclique von Tormans die von ihnen unterdrückte Bevölkerung vor systemgefährdenden Informationen von außerhalb des Planeten zu bewahren versucht, wäre der auch unter sowjetischen Verhältnissen denkbar? Nein, dieses Buch war auch durch das beschwichtigende Vorwort, in dem Jefremow mehrfach auf W. I. Lenin verweist, nicht mehr zu retten.
Die Stunde dieses Buches brach erst mit der Zeit der neuen Offenheit unter Gorbatschow an. Meines Wissens 1988 erschien der Roman erstmals wieder, und seit 1991 ist er in russischer Sprache wohl ständig lieferbar. Von 1988 bis März 2009 sind mindestens 23 unterschiedliche Ausgaben erschienen.

 

(Auszug)

http://www.gloss-science-fiction.de/funkkabine.htm

 

Tageszeitung "junge welt" vom 18.12.2009

Tödliche Oligarchie

»Die Stunde des Stiers«, das letzte Buch von Iwan Jefremow, ist auf deutsch erschienen

Von Gerd Bedszent

  

Im Realsozialismus gehörten Utopien zu den beliebtesten Literaturgattungen. Die meisten Neuerscheinungen wurden den Verkäufern förmlich aus den Händen gerissen oder gingen unter dem Ladentisch weg. Nach 1989 sah es so aus, als wäre diese literarische Gattung zum Aussterben verurteilt. Eines der begehrtesten Werke des Genres war der 1957 erschienene Roman »Andromedanebel« (auf deutsch auch unter dem abweichenden Titel »Das Mädchen aus dem All« veröffentlicht) des 1972 verstorbenen sowjetischen Autors Iwan Jefremow.

Jefremow war nicht nur ein populärer Autor von Belletristik, sondern auch ein international bekannter Paläontologe. Zunächst veröffentlichte er hauptsächlich Abenteuererzählungen, in denen er Erlebnisse seiner geologischen und paläontologischen Expeditionen literarisch verarbeitete, später kamen historische Romane und Science-fiction-Bücher hinzu. »Andromedanebel«, die grandiose Vision einer künftigen kommunistischen Gesellschaft, erlebte in der Sowjetunion Millionenauflagen. Das Buch schildert eine Gesellschaft ohne Hunger, Armut und Krieg, die eine beispiellose Entfaltung von Wissenschaft und Kultur ermöglicht. Die Erde ist darin durch einen galaxisübergreifenden »Großen Ring« mit einer Vielzahl außerirdischer Zivilisationen verbunden, mit denen sie auf gleichberechtigter Basis zusammenarbeitet.

Wenig bekannt ist, daß es eine 1968 entstandene Fortsetzung des Buches gibt: »Die Stunde des Stiers«. Die Story ist etwa 300 Jahre nach »Andromedanebel« angesiedelt und beschreibt die Expedition eines Raumschiffes zu einem Planeten, der Jahrhunderte zuvor von einer Gruppe irdischer Auswanderer besiedelt wurde, die sich dem »Großen Ring« nicht angeschlossen hatten. Als Folge ungebremsten Wirtschaftswachstums und einer darin bedingten Ökokatastrophe war es auf dem Planeten Torman zum Rückfall in eine oligarchische Diktatur gekommen. Die Machthaber kapselten den Planeten nicht nur komplett nach außen hin ab, sie setzten auch eine rigorose Spaltung der Bevölkerung in eine Minderheit von »Langlebigen« und eine Mehrheit von »Kurzlebigen« durch. Die regierende Clique setzt mit brutaler Rücksichtslosigkeit ihre privaten Interessen durch, während die meisten »Kurzlebigen« in Erwartung des baldigen Todes in Apathie verharren. Der Besatzung des Raumschiffes gelingt es trotz anfänglichen Widerstandes zwar, den Planeten zu betreten und Kontakte sowohl den Herrschenden als auch zu den Unterdrückten herzustellen und ihnen die Vorteile der kommunistischen Gesellschaft zu schildern. Doch binnen kurzem werden sie in Machtkämpfe zwischen verschiedenen Fraktionen der Oligarchie hineingezogen, wobei ein Teil der Besatzung getötet wird. Die Überlebenden flüchten mit dem Raumschiff zurück auf die Erde.

Jefremows letztes Buch erlebte eine wechselvolle Geschichte: Im Westen wurde es wegen verschiedener Anspielungen im Text als »antichinesisches Pamphlet« eingestuft, der geschichtsphilosophische Ansatz des Autors nicht begriffen oder ignoriert. Sehr genau verstanden jedoch die realsozialistischen Tugendwächter, daß Jefremows Schilderung eines Rückfalls vom Kommunismus in die Barbarei dem Dogma vom gesetzmäßigen Sieg der überlegenen sozialistischen Gesellschaftsordnung widersprach. Kurz nach Erscheinen wurde das Buch auf Empfehlung des damaligen KGB-Chefs Juri Andropow verboten und aus allen Bibliotheken entfernt; seine Existenz durfte in keiner Bibliographie mehr erwähnt werden. Andropow wurde 1983 Generalsekretär der ­KPdSU und leitete einen Reformkurs ein, der unter seinem späteren Nachfolger Michail Gorbatschow dann letztlich in den von Jefremow offenbar vorausgeahnten Absturz in die oligarchische Barbarei mündete. Ein Treppenwitz der Geschichte ist, daß gerade dieser Absturz es erlaubte, das Buch wieder aus der Versenkung zu holen – im Jahre 1988 erfolgte die erste russische Neuauflage nach dem Verbot.

Bisher konnte sich das deutsche Verlagswesen noch nicht dafür entschließen, dieses Werk ihren Lesern anzubieten. Die Übersetzung sowie eine Kleinauflage des Buches erfolgte im Frühjahr 2009 durch das Fanprojekt TES. Bestellungen sind derzeit nur möglich über www.booklooker.de oder direkt bei gmrose070159@freenet.de.

 

Iwan Jefremow: Die Stunde des Stiers. Edition TES, Erfurt 2009, 599 Seiten, 34,80 Euro